Wie stehen wir eigentlich zu Bänken – also wir als Gesellschaft? Platznehmend, vorbeigehend, keinerlei Beachtung schenkend, angewidert vom angesammelten Vogelkot? Was ist eigentlich so toll an einer Gesellschaft? Ist uns das noch was wert oder kann das weg? Leben wir überhaupt noch in einer, fragt man sich manchmal, wenn man einflussreichen Persönlichkeiten und Machthabern so beim Predigen und Ausführen ihres Hyperindividualismus zusieht. Was für eine Bedeutung hat die große zivilisatorische Errungenschaft des gemeinsamen Miteinanders noch? Das Videospiel „Wanderstop“ von Ivy Road und der Roman „Die Wand“ von Marlen Haushofer beschäftigen sich mit unserem verwitternden Verhältnis zur Gesellschaft, indem beide Werke ihre Protagonistinnen ihren jeweiligen Gesellschaften entziehen. Beide Werke beschäftigen sich auch mit unserer Beziehung zu Bänken, wodurch die Bank als Gegenstand der Gesellschaft, als Vertreter jener, erlebt wird. Ja Bänke, die teils verwahrlost unbeachteten, der unbarmherzigen Witterung ausgesetzten Holzplanken, die sich uns trotz allem stets anbieten Platz auf ihnen zu nehmen. Die Stellung oder Haltung zu Bänken vieler Menschen wird eine ähnliche sein wie zur Gesellschaft, eher gleichgültig, vielleicht sogar skeptisch hinsichtlich ihrer Nützlichkeit. Das ist etwas Selbstverständliches, irgendwie auch Antiquiertes – das brauche ich nicht. Das hält mich in meinem Voranschreiten ja nur auf.

Die Eine wird aus ihrem Tatendrang in Tatenlosigkeit getrieben. Die Andere wird aus ihrer Tatenlosigkeit in Tatendrang getrieben. Beide brauchen eine Bank. Einen Ort abseits des Gedränges und der Dränge. Die Andere braucht sie, um sich zu erholen, die Eine um das Erholen zu erlernen.
Alta galt einst als stärkste Kämpferin, als unbezwingbar, als Idol für viele die es ihr gleichtun wollen. Doch ist dieser Posten an der Spitze nur wenigen bzw. einer vorbehalten. Wie sollte also jemand in der Lage sein aus alleiniger Kraft einen so begehrten Posten zu erlangen oder gar zu halten? Früher oder später musste es passieren, dass er ihr streitig gemacht wird, der Titel der Stärksten. So geschah es letztlich auch, dass auf Altas erste Niederlage eine zweite folgte und so weiter. Ihr Wille an der Spitze zu sein war nach wie vor da, aber sie wurde schlichtweg outperformt. Wer war sie nun noch? Entthront, enttitelt und zerfressen von Selbstzweifeln begibt sie sich in Wanderstop nun in einen verzauberten Wald, auf der Suche nach einer alteingesessenen Schwertkampfmeisterin, um ihre Fähigkeiten wiederaufzufrischen, um wieder mitzumischen. Doch beim Sprint durch jenen Wald, auf der Suche nach dem was ihr verloren ging, ist alles was sie ereilt, die Erschöpfung. Diese ignoriert sie, getrieben von ihrem kämpferischen Willen, eilt und eilt sie weiter, bis sie letztlich nicht mal mehr fähig ist ihr kostbarstes Gut – ihr Schwert – zu tragen und anschließend auch sich selbst nicht mehr. Wäre da doch nur eine Bank zum Erholen. Alta würde sie vermutlich gar nicht erst wahrnehmen. Dankbarerweise ereilt die Bank einfach Alta.
Die namenlose Protagonistin aus Marlen Haushofers „Die Wand“ führte einst ein herkömmliches von Glück beseeltes Familienleben. Nur als sie dann irgendwannn verwitwete und ihre Töchter eigenständig wurden, fing es an ihr an Platz und Bestimmung zu fehlen. Bei einem Ausflug zum Jagdhaus ihrer Cousine und deren Mannes in den Bergen, entscheidet sie in der Unterkunft zu verbleiben während die anderen für einen Abstecher runter in die Stadt gehen. Den Tag darauf stellt sie fest, immer noch allein vor Ort zu sein. Und daran sollte sich auch erstmal nichts ändern, denn eine unsichtbare Wand trennt sie vom Rest der Welt ab – in diesem von nun an auf magische Weise abgesteckten Gebiet inmitten bewälderter Berge. Nach Feststellung ihrer neuen Lebensumstände verliert sie sich zunächst im Zustand des Schocks und der Verwirrung wieder. Dies erfordert natürlich die rasche Anwesenheit einer Bank, zum Sitzen und Besinnen. So begab sie sich dann auf eine Bank am nun leerstehenden Haus ihrer Cousine, an den leergefegten unbefahrenen Straßen und leerte ebenso ihre vom Unglauben befallenen Gedanken, dachte an nichts und starrte in die Natur, bis Luchs der Haushund zu ihr auf die Bank sprang. So ganz allein war sie nun doch nicht.
Nachdem Alta beim Sprint durch den Wald die Bewusstlosigkeit ereilte, wurde sie glücklicherweise aufgelesen – vom Hüter des Waldes wenn man so will. Als sie erwacht findet sie sich auf einer Bank wieder und erblickt neben sich den fast schon mit aufdringlicher Ausgeglichenheit dreinblickenden Hüter, der eigentlich Boro heißt und einen kleinen beschaulichen Teeladen auf einer Lichtung inmitten dieses Irrwaldes hütet. Er scheint ein Meister seines Faches zu sein, im Einklang mit allem. Nur ist dies nicht der Meister, den Alta erhoffte zu finden. Boros Angebot an Alta doch für eine Zeit hier zu verweilen, im Teeladen auszuhelfen und ein bisschen zur Ruhe zu kommen, wird sie zunächst ausschlagen. Sie muss doch ihre Form wiedererlangen. Sofort. Keine Zeit für Teekränzchen. Doch ihre Versuche die Lichtung des Teeladens zu verlassen, scheitern. Beim Irren durch den Wald wird sie immer wieder scheitern und ihr Bewusstsein verlieren. Und immer wieder wird Boro da sein, sie auflesen und sie wird auf der Bank in der Lichtung erwachen.

Sowohl Alta als auch Haushofers Protagonistin werden mit einem radikalen Wandel ihrer gewohnten Lebensrealität konfrontiert. Beide befinden sich in einem aus unerklärlichen Gründen, schlicht magisch begrenzten Lebensraum, auf einer Lichtung inmitten eines Waldes. Auf Altas Lichtung: Boros Teeladen; auf Haushofers Lichtung: das Haus und der Hof der Cousine. Beide machen sich zunächst mit Sitzbänken vertraut. Eine gewollt, die andere eher ungewollt.

Alta scheint zunächst entsetzt, empört über sich selbst und geplagt von ihrem verrückt spielenden Gedankenkarussell. Der Zustand des schlichten Sitzens macht ihr zu schaffen. Die Untätigkeit ist ihr unerträglich. Sie kann es nicht wahrhaben tatsächlich erschöpft zu sein. Das passiert vielleicht anderen, aber nicht ihr, denkt sie sich. Die Bank ist ein Ort, der sie an ihre Unzulänglichkeit erinnert, ein Ort der sie anstrengt, eben weil er sie zur Nichtanstrengung anstiftet. Während die Bank für Haushofers Protagonistin einen stets willkommenen und ersehnten Rückzugsort zum Besinnen und Ausschalten darstellt. Allerdings ist sie in ihrem abgesteckten Ort auch dem nackten Überlebenskampf ausgeliefert. Sie wechselt vom bequemen Alltag in der Zivilisation in die unbarmherzige ihr alles abverlangende Natur. Während Alta aus ihrem alltäglichen Überlebenskampf in einen entschleunigten, entspannteren Alltag im Wald gezogen wird, bei dem für alles Überlebensnotwendige gesorgt ist und lediglich weitere Komfortmaßnahmen wie das Zubereiten von Tees und Umtopfen von Pflanzen auf der To-Do-Liste stehen. Hin und Wieder schauen Gäste oder eher Durchreisende vorbei, denen wir unsere Gastfreundschaft anbieten, dabei ereilt uns dann auch tatsächlich der ein oder andere Wunsch und wir sind gefordert zu handeln. Spezifische Tees erfordern spezifische Maßnahmen. Pflanzenkunde und Braumethoden verlangen gemeistert zu werden und Alta findet endlich etwas Ablenkung – von dieser elendigen Bank, dem Nichtstun und den damit einhergehenden hereintrudelnden Gedanken.
Haushofers Protagonistin hingegen wird die Umtriebigkeit, die Alta entrissen wurde, nun einfach auferlegt. Überlebensmaßnahmen wollen getroffen werden. Der Gemüseanbau will geplant und durchgeführt werden, eine Kuh aus der Umgebung, die sich auf den Hof verlaufen hat, will gepflegt und gemolken werden, das Feuerholz muss gehackt werden, Nahrung muss zubereitet werden. Sie wird durchgehend getrieben, ihr Gedankenkarussell dreht sich rundum Überlebensfragen. Hält sie an, um Platz auf der Bank zu nehmen, hält auch das Karussell an. Ihre Gedanken sind leer und sie gibt sich vollkommen der Erschöpfung hin. In den Abendstunden, verrät sie, überkommt sie die Angst. Eine Angst davor den Verstand zu verlieren, eine Angst vor der Einsamkeit. Weshalb sie sich eben auch diese eine weitere Überlebensmaßnahme auferlegt: das Schreiben. Somit bleibt das Sitzen auf der Bank, ihr einziger Ort des Nichtstuns, der reinen Entspannung.

In beiden Werken geht es ums Verhältnis zwischen Rastlosigkeit und Entspannung, um Ausgeglichenheit – und um unsere Beziehung zu Bänken. Damit auch um unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung sinnförderndes sowie sinnfreies Sitzen auf Bänken breitflächig zugänglich zu machen und zu erhalten. Für beide dienen die Bänke als Bezugspunkt zur Entspannung, aber auch zur Konfrontation – mit den eigenen rastlosen Gedanken.
In beiden Werken werden die jeweiligen Protagonistinnen aus ihrer gewohnten Balance geworfen – verlieren ihr Gleichgewicht und werden durch sie magisch eingrenzende Wälder dazu genötigt neue Balance zu finden. Oder vielmehr werden in beiden Werken die jeweils bisherigen Lebensweisen hinterfragt und Vorschläge unterbreitet zur weiteren Gleichgewichtsfindung, indem der Wald Bänke anbietet.
Alta gab sich der totalen Selbstaufopferung in einen Prozess des endlosen sich Bewährenmüssens hin und ist nun mit einem Ort konfrontiert, der ihr Last abzunehmen versucht statt sie weiter zu beladen. Haushofers Protagonistin hingegen ist das verdrehte Gegenbeispiel. Sie ist nun an einem Ort an dem sie komplett auf sich allein gestellt ist, sich endlos bewähren muss, überleben. Doch abgesehen von ihren anfänglichen Versuchen ihre neue Situation bzw. die Wand verstehen zu lernen, unternimmt sie keine sonderlich aufwendigen Versuche ihrer Lage zu entkommen. Es ist fast so als würde sie sich bewusst für das Leben hier entscheiden. Vielleicht geht es also gar nicht, um die „richtige“ Lebensführung, sondern um die Option eigenmächtiger Entscheidungen.
Beide wären ohne die Institution der standfesten Sitzbank die Rückhalt bietet, der Überforderung unterworfen. Haushofers Bank ist zudem auch eine letzte Bastion der gemeinschaftlichen Zusammenkunft zwischen Protagonistin und den ihr trostspendenden Tieren in einer Welt, die ihr abseits dessen nur noch den Kampf abfordert. Beide dürfen beim Sitzen auf Bänken ihren Träumen verfallen; ihre Gedanken hinterfragen und schweifen lassen; schwelgen über was mal war, was sein könnte, was nie war und niemals sein wird. Mit Gewissheit finden sie auf keine ihrer Fragen Antworten. Warum sind sie in verzauberten Wäldern gefangen? Waren sie in diesen Wäldern überhaupt jemals gefangen? Waren sie nicht auch in ihren vorigen Lebensrealitäten gefangen und durch die magischen Wälder fand in ihnen viel eher ein Bewusstwerdungs- und Befreiungsprozess statt?
Beide Orte vermitteln zunächst den Eindruck einer Gefangenschaft. Die Wand ist ein ausschließender Ort. Die Protagonistin ist ausgeschlossen vom Rest der Gesellschaft. Wanderstop ist ein zugänglicher Ort. Betreten und Verlassen ist jederzeit möglich, Alta gelingt das Verlassen nur nicht. Wanderstop stellt eine öffentlich zugängliche Institution dar, die verlorenen Seelen, vor was auch immer davonrennend, in den verzauberten Wald flüchten und bietet ihnen eine Tasse Tee und eine Bank zum Wiederaufbau, zur Entlastung. Beide Werke beschäftigen sich mit unserer individuellen Beziehung zur Gesellschaft. Oder eben wie wir eigentlich zu Bänken stehen.
Der Einen wird geholfen, zurück in eine Gesellschaft zu finden, von der sie dachte sie erwarte von ihr Zermürbung bis auf den Tod, die ihr jedoch half wieder aufzustehen und Verantwortung abnahm. Die Andere wird verworfen, zurück in Naturzustände des Kampfes bis auf den Tod, der Vereinsamung und Verkümmerung überlassen, mit einem letzten Überbleibsel einer einstigen Gesellschaft – einer Bank. Zwei Seiten potentieller Gesellschaften: Eine die die Bank als notwendige Institution, als zivilisatorische Errungenschaft zur Entlastung von Individuen anerkennt und eine der gesellschaftlichen Auflösung und des Rückfalls in Naturzustände und der Selbstverantwortung.
Haushofers Protagonistin geht irgendwann das Papier aus und ihre letzte geschilderte Handlung wird das Füttern einer Krähe auf ihrer Lichtung sein. Es wirkt so als würde sie sich bewusst für das Leben im Wald mit den Tieren entscheiden, keine Ausbruchsversuche unternehmen. Sie wird selbst zur letzten zivilisatorischen Bastion – ein Wanderstop für die hiesige Tierwelt. Eine Bank. Alta eignet sich in Wanderstop ein völlig neues Selbstbewusstsein an und ist wieder fähig den Wald zu verlassen, sich von der Bank zu erheben.
Und was für eine Lehre ziehen wir nun aus dem Ganzen? Nun das weiß ich doch nicht, entspannt euch mal und hinterfragt nicht ständig alles nach persönlichem Nutzen und Wert und bla. Was ist denn nun eine kaputte und was eine utopische Gesellschaft? Nun, Wanderstop liefert uns neue Musik vom legendären Minecraft Komponisten C418. Wer nicht sieht, dass wir damit gesamtgesellschaftlich einer Utopie näherschreiten, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Außer vielleicht mit einer Disziplinarmaßnahme: ab auf die Bank.
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