Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt. So lautet die erste Regel des philosophisch begründeten Moralkodex der allseits bekannten Kampfsportart. Ein Wert, der es wohl auf ewig wert sein wird, hervorgehoben zu werden. So ist es scheinbar ein Naturgesetz, dass in kompetitiven Umgebungen diesbezüglich eine anhaltende Mangelkenntnis herrscht und stark toxische Zustände den Alltag eher abbilden.
Lidia Sobieska ist die polnische Premierministerin, in Tekken. Nun tritt sie als neueste Teilnehmerin dem mittlerweile doch recht obskur bestückten Kämpfer:innenfeld des siebten großen Tekken Turniers bei. Sie reiht sich ein, neben bereits nahmhaften Teilnehmer:innen, wie bspw. dem Mishima Clan, dem mittels Kapoeira Gegner wegtänzelnden Eddy, einem Bären namens Kuma, aber auch neumodischeren Teilnehmern, wie dem schnöseligen Prinzen Noctis aus Final Fantasy XV – oder auch Negan aus The Walking Dead, huh?
In einem eindrucksvollen Launch Trailer bekamen wir bereits einen Einblick in die Kampfkunst, die sie ausübt. Neben ihrem mit Verantwortung beladenem Hauptberuf ist sie eine begnadete Karateka, was ihr hier nun zu Gute kommen soll. Denn auf ihre diplomatische Anfrage an den CEO der Mishima Financial Group und Erfinder des Tekken Turniers, Heihachi Mishima, dass er seine militärischen Streitkräfte aus ihrem Heimatland abziehen solle, antwortete dieser lediglich mit Häme. Mittels subversiver Drohgebärde zog der Boss des Finanzimperiums die Aufmerksamkeit Lidia Sobieskas auf sich und sein Turnier – um den Konflikt auf „klassische“ Weise beizulegen. Natürlich zögerte die Premierministerin nicht lange und nahm pflichtbewusst und mit überzeugtem Willen die „Einladung“ zum Kampfturnier an. Mishimas Finanzimperium versucht schließlich nun auch mittels militärischer Streitkräfte und strategischer Platzierung dieser, seine weltweite Besitznahme auszuweiten sowie seine größte Konkurrenz – die G. Corporation – in Form eines von Großunternehmen geführten dritten Weltkriegs, aus dem Spiel zu nehmen. Hier überträgt sich der toxische Umgang aus dem kleineren kompetitiven Spielbereich in Machtausübungen auf den globalen Spielbereich.
Auf dem globalen Spielbereich kann mit der Finanz- und Militärkraft eines Mishima nicht Schritt gehalten werden, durch die Teilnahme an seinem Kampfturnier wird der Spielbereich wieder auf einen kleineren Raum verschoben, auf welchem die Machtverhältnisse wieder ausgeglichener sind. Doch warum sollte Mishima ein solches Risiko in Kauf nehmen? Gerät Lidia hier nicht eventuell doch in eine Falle, oder handelt es sich um die klassische Verhaltenslogik schurkenhafter Figuren, nach welcher jene nach irrationalen Maximen handeln und ihnen ihre haushohe Überlegenheit zu Kopf steigt? So würde die Entscheidung Lidias, ihre politischen Absichten mittels Kampfsports durchzusetzen und darauf zu vertrauen, dass der Bösewicht seine Truppen bei einer Niederlage abzieht, durchaus noch Sinn ergeben. Bei ihr ist schließlich nicht der Schimmer eines Zweifels sichtbar, so tritt sie mit starker Überzeugung und Disziplin bei ihren Kämpfen an, streckt ihre Kontrahent:innen gnadenlos nieder, doch nimmt ihre Begegnungen stets ernst und begegnet mit Respekt und Fürsorge. So verhält sie sich auch stets einsichtig – und ist immerzu bereit den Notruf für ihre Kontrahent:innen zu wählen, falls doch mal über die Stränge geschlagen wurde. Oder vielleicht handelt es sich bei dieser gut gemeinten Siegesgeste auch um die ultimative Verleumdung des Karatekodex und sie verspottet im Subtext, um auch weiterhin als Karateka anerkannt zu bleiben. Eine andere Situation, in welcher sich ein Schein der Verspottung offenbart, ist, wenn sie kurz vor Kampfantritt ein scheinbar sehr wichtiges Telefonat mit folgenden Worten beendet: „This will be over before lunch“. Haben sich die toxischen Verhaltensweisen also auch bei ihr durchgesetzt? Es wäre nur allzu denkbar, schließlich müsste sie als Premierministerin in subversiver Rhetorik geschult sein und kann sich somit auf mehreren Verhaltensebenen bewegen ohne direkt überführt zu werden.
Was könnten also ihre wahren Intentionen sein, neben der Wahrung einer freien Welt vor korrupten Großkonzernen, der heldinnenhaften und ehrwürdigen Repräsentation Polens und der Auflösung gewisser Rollenbilder in Videospielen? Wofür tritt sie in einen wortwörtlichen Kampf gegen die Welt? Gegen die Welt und sämtliche ihrer sozioökonomischen Konventionen? Es kann nur einen letzten und tief versteckten Grund geben, die anhaltende Vernachlässigung des Tekken Bowl, des Bowling Modus. Schließlich müssen auch hier, die Machenschaften Mishimas, Mitgrund für die Vereitelung der weiteren Durchsetzung dieses Modus verantwortlich sein. So ist dieser zwar im lokalen Mehrspielermodus spielbar, doch für eine Online-Umsetzung werden nach wie vor keine Ressourcen aufgewendet. Es bleibt eine unverzeihliche Schande, dass uns die Möglichkeit eines online spielbaren Bowling Modus mit abstrusen Tekken Figuren verwehrt bleibt. Hoffen wir also, dass Lidia den Vertreter:innen überfälliger Konventionen auf die Schnauze haut und es mit ihrem Eintritt in die Tekken-Riege auch weiterhin zu erfreulichen Progressionen kommt.