In Situationen der Unentschlossenheit, wenn eine richtweisende Entscheidung vonnöten ist, wird diese gern einem Münzwurf überlassen. Soll doch eine höhere Macht über mich entscheiden. Gesteht man sich jedoch noch einen Funken eigener Handlungsmacht zu, und möcht eine klare eigene Wahl treffen wäre dies nicht nötig. Außer eben man befindet sich in einem Kollektiv differierender Interessen. Und in einer solchen kollektiven Entscheidungsparalyse läuft es dann oftmals auf eine traditionelle Gegenüberstellung, ein Duell, hinaus, um einen gemeinsamen fairen Richtspruch, oder eine Richtweisung, herbeizuführen – durch die lebensrohe Entscheidungsfindung in Schere, Stein, Papier.
Tchia ist ein herzliches kleines Action-Adventure mit farbenfroh prächtiger Open World und teils sehr morbidem krudem Humor. Doch so wunderschön wie es auf der Oberfläche erscheint, so durchtrieft von menschenverachtenden Gewaltexzessen, korrumpierten Gesellschaftszuständen und kinderverzehrenden Konzernchefs ist es darunter. Die titelgebende Tchia ist die hiesigen Herrschaftsverhältnisse zerschneidende Heldin. Steine dienen ihr als Machtinstrument – zur Zertrümmerung jener Verhältnisse. Aus Papier sind die herrschaftstreuen Gefolgskreaturen des unterdrückerischen Imperiums.
Als Open World dient in Tchia ein abwechslungsreiches Archipel inspiriert von Neukaledonien. Auch erzählerisch ist es teils sehr grotesk aber auch sehr kindlich was einen weirden Mix darstellt und paradoxe Einschätzungen zur Zielgruppenorientierung zulässt, für wen ist das hier eigentlich? Und ist es überhaupt wichtig dies zu bestimmen? Es könnte auch als angenehm empfunden werden, dass die Anbiederung an eine bestimmte Zielgruppe wegfällt. Vielleicht lässt sich von Kindern sowie Erwachsenen mehr erwarten – Von Erwachsenen die Auseinandersetzung mit vermeintlich eher kindlichen Themen und von Kindern die Verarbeitung von Groteskem und teils auch sehr Traurigem. Wir spielen jedenfalls ein Kind und zwar die titelgebende Tchia, die sich nach der Entführung ihres Vaters durch einen wirtschaftsimperialen Schaman:innenkult, nun erst mal alleine auf dem Archipel zurechtfinden muss. Und klassischerweise erhalten wir nach und nach mehr Fähigkeiten dazu, erkunden und befreien die Spielwelt von unterdrückerischer Symbolik in Form von Statuen und Fabriken des Kults, aber auch genre-obligatorischen Gegnercamps mit übernatürlichen Papierkreaturen die wir verbrennen müssen, auf dem Weg zur Befreiung unseres Vaters sowie des gesamten Archipels. Spielmechanisch orientiert es sich stark an bekannten Genrevertretern. Dazu gehört dann eben auch das teils zehrende Durchreisen der riesigen Spielwelt. Zwar steht uns auch ein Boot, ein Gleitschirm sowie der ausgefranste Sprintknopf zur Verfügung, doch fürs Traversel durch die Spielwelt haben sich die Entwickler:innen von Tchia noch weiteres zur Angenehmwerdung überlegt – den sogenannten Seelensprung. Mit diesem können wir in die Körper von Tieren oder auch Objekten in unserer näheren Umgebung springen und so als diese die Spielwelt durchqueren.
Der Spiel- und Kulturraum in Tchia ist geprägt von immenser Spiritualität. Doch wohin trägt uns diese? Kann sie uns durch die Spielwelt tragen? Von Ort zu Ort befördern? Kann dieser Spiritualität irgendetwas Materialistisches entnommen werden? Greifbare steinharte Anweisungen, für ein bewussteres Leben im Einklang mit der Natur? Verbleibt sie im Esoterischen oder durchbrechen wir das Spirituelle mithilfe der Brachialität eines Steins? Ein Stein zur Zertrümmerung des Wachstumsparadigmas, zur Zertrümmerung des hiesigen wortwörtlichen gegenseitigen Auffressens? Die Themen des Spiels mögen in Spiritualität gehüllt sein, doch basieren auf echten menschlichen Konflikten. Der Raubtierkapitalismus in Form einer grausamen kinderverschlingenden Gottheit in Führungsfunktion als Konzernkreatur, welche die Inselgruppen tyrannisiert, ausbeutet und verpestende Fabriken platziert. Vielleicht etwas überhöht, vielleicht aber auch nicht. Die einhergehende – erzwungene – Verehrung und Anbetung des Finanzriesen verankert sich in einigen Teilen der Gesellschaft. Wenn wir nur dienlich und unterwürfig sind, werden wir schon entlohnt von unserer thronenden Gottheit. Tchia akzeptiert das Konzept der Opferdargabe jedoch nicht, also bringen wir den Stein zur Revolution ins Rollen. Dafür müssen wir dem Stein jedoch erst eine Seele zusprechen – ist er nicht nur ein einfaches Ding? Nun, der Stein besitzt in Tchia tatsächlich eine revolutionäre sowie spirituelle Symbolik, denn wir können unseren Seelensprung auf ihn anwenden und so in bislang ungekannte spielmechanische Sphären aufsteigen. Er eröffnet uns neue Macht und Handlungsspielräume. Nicht nur mithilfe unserer Steinschleuder können wir die Herrschaftsverhältnisse missachten, auch durch das Sein als Stein, führen wir die Revolution an. Power to the people und so.
Die Spielwelt ist von diverser Flora und Fauna geprägt, verschiedenste Vögel, Fische und Vierbeiner bieten sich uns für einen Seelensprung an. Doch nichts davon reicht an die allgegenwärtige Verfügbarkeit eines Steins heran. Steine finden wir überall und als Stein können wir uns selbst durch die Spielwelt katapultieren und unnachvollziehbare Höhen und Geschwindigkeiten erreichen. Klar ist es auch mal schön als Vogel durch die Lüfte zu schwingen, aber aufmerksame Tierschützer:innen könnten uns auf die Pelle rücken. Denn was passiert da genau bei einem Seelensprung eigentlich? Ist es nicht Tiermissbrauch den Körper eines Tieres zu übernehmen und diesen an einem beliebigen Ort wie einen Gebrauchsgegenstand wieder zu verlassen? Ist die Verwirrung eines Tieres ermesslich, macht es ihm etwas aus? Da übernehmen wir doch lieber einen Stein, dann muss sich nicht damit auseinandergesetzt werden. Wer will uns da noch was anhaben, außer vielleicht die papiernen Handlanger der Schurkenfraktion. Als Stein sind wir dem Papier hilflos ausgesetzt. Zurück in unserem ursprünglichen Körper als Tchia, können wir die Papierkreaturen jedoch auskontern.
Tragen die Steine nun eine eigene Seele in sich, oder dienen sie uns hier als reiner Transfergegenstand für die eigene Seele? Vielleicht eher letzteres. So dienen uns die Steine hier eher als leere Hülle, in welche wir Bedeutung hineinprojizieren. Der Stein findet in Tchia auch auf andere Weisen spielmechanische Bedeutung. Aktivitäten wie Steine stapeln, oder das Gedenken an Verblichene an Steingräbern, beladen den Stein als solches mit weiterer Bedeutung. Ob als Wegweiser oder als Träger symbolischen Überrests menschlicher Seele, besitzt der Stein vielfaches hilfreiches Potenzial. Doch hauptsächlich dient uns der Stein hier in Tchia als Transportmittel. Wir verbringen viel Zeit im Sein als Stein, sollten dabei allerdings nicht vergessen wer wir eigentlich sind. Der Rausch des Steinseins könnte uns vereinnehmen. Das Hochgefühl der Geschwindigkeit, die Ruhe der gedanklichen Leere. Als Stein sind wir von Unvergänglichkeit gesegnet uns es bedarf keinerlei Aktionen unsererseits, um unser Überleben zu sichern. Am Stein könnte Tchia kaputt gehen. Sie könnte sich vergessen, die Zusammenhänge denen sie entstammt, die Inselgruppe, die Flora und Fauna, vergessen, vergessen was sie einst schützen wollte, wofür sie kämpfte.
So sehr er uns auch sein zerstörerisches Potential zur Verfügung stellt, um sozioökonomische Verhältnisse zu umwerfen, so sehr kann er uns auch vereinnehmen und unseren Tatendrang in Tatenlosigkeit umwerfen, sollten wir vergessen wofür wir eigentlich einst als Stein einstehen wollten. Dieser Ausblick hier ist doch recht schön, hier könnte ich bleiben, mich niederlassen, einfach nur Sein, als Stein.
