In Ys VIII hält Märchenonkel Adol Christin ein weiteres mal eine ausufernde, weltgeschichtlich umspannende und später sogar noch existenzphilosophische Geschichte bereit. Der Erinnerungsschatz des rothaarigen Helden wird wohl noch für das ein oder andere Sequel herhalten. Abermals schlüpfen wir also in die Rolle des sagenumwobenen Abenteurers und Erzählers, erleben einen Auszug seiner Memoiren, den rundum des sogenannten Lacrimosa von Dana. Horchen wir ihm also, betreten seine spielbare Erzählung. Allerdings sei gesagt, dass es sich bei Adol – möglicherweise – um einen eher verantwortungslosen Erzähler handelt – zumindest in Bezug auf den akkuraten Wahrheitsgehalt seiner Geschichten. Als Abenteurer – oder waghalsiger Tagträumer, schert es ihn wohl nicht. Vielleicht betreibt er seine Ausschmückungen und Übertreibungen bewusst, um seine Geschichten angenehmer zum Zuhören zu machen, versteckt darin subtile Wahrheiten, die entdeckt werden wollen. Vielleicht ist er aber auch nur senil geworden, bindet sich an verklärte Erinnerungen, die so nie stattfanden. Vielleicht tragen seine verklärten Erinnerungen in ihrer Essenz und Aussagekraft eine Wahrheit in sich, allerdings bis aufs Äußerste ausgeschmückt, verknüpft, mit anderen Geschichten. Ein komplexes Erinnerungsgewebe, das sich immer weiter ineinander verstrickt, und letztlich nur noch eine Suppe, ein Konglomerat aus allen gesammelten Erinnerungen in einem Topf bildet, aus dem er zwar noch schlürfen kann, aber keine geschmacklichen Unterscheidungen, keine Zusammenhänge, mehr zu schmecken, zu erkennen vermag. Seine Erinnerungen, lediglich ein vernebelter Wald. So wird er uns wohl auch diese Geschichte erzählen: Lacrimosa of Dana.
Es beginnt als ein gewöhnliches, unbeschwertes und vor allem glaubwürdiges Abenteuer. Adol Christin befindet sich als einer von vielen weiteren Passagieren auf einer Schiffsüberfahrt, um auf einem anderen Kontinent nach neuen Abenteuern zu suchen. Natürlich kommt es zu einem völlig unerwarteten Schiffsunglück und die Passagiere stranden völlig verstreut auf einer geheimnisvollen Insel namens Seiren. Von hier an entfaltet sich eine wundervolle Symbiose aus Action-, Adventure- und RPG-Elementen. Wir erkunden die weitläufige Insel, kämpfen stilvoll und anmutig gegen feindliche Monster, errichten einen gemütlichen Unterschlupf, suchen nach weiteren Gestrandeten und überlegen uns einen komplexen Fluchtplan, der das Sammeln von Holz und das Bauen eines Fluchtschiffes beinhaltet. Die einzelnen Figuren glänzen, nicht nur aufgrund des generischen Grafikstils, tatsächlich auch aufgrund ihres Charismas. Unter den Überlebenden tummeln sich unterschiedlichste liebevolle Charaktere. Das Gameplay ist direkt, flüssig und abwechslungsreich. Die Grafik ist, nun. Machen wir mal eine knappe Budgettierung verantwortlich dafür. So viel zum Spielerischen, denn die Erzählung ist ja noch lange nicht ausgeschöpft. Bis hierhin geschah noch kaum Ungewöhnliches, eine reine Adventure/Survival Erfahrung also? Mitnichten! Die Ereignisse sollten sich noch überschlagen, ein monumentales Abenteuer rundum Weltenrettung, Vermeidung eines Massensterbens, und generell: das Verhindern der Auslöschung von „Allem“. Denn dieses „Alles“, unser Raum-Zeit-Kontinuum, sollte sich später noch als etwas sehr Fragiles offenbaren.
Das viele Erkunden und Kämpfen verpflichtet die Gestrandeten dazu erholsame Regenerativphasen einzulegen. Doch Adol wird in den wenigen Schlafpausen, die wir ihm gönnen, von intensiven Träumen geplagt. Träume von einem mysteriösen Mädchen aus einer undefinierbaren Vergangenheit: Dana. Es stellt sich heraus, dass dieses Mädchen und die Zivilisation, der sie zugehörte, einst auf dieser Insel lebten und die Schicksale Adols und Danas tief miteinander verwoben sind. Das Esoterikmeter wird noch viel, viel weiter ausschlagen. Adol und seine tapfere Gruppe aus Mitstreiter:innen finden anschließend Dana in ihrer eigenen Zeitebene, die Avatar-esk, nicht vereist, aber verwurzelt in einem Baum, die vergangenen Äonen im Tiefschlaf verweilte. Nun wird die bereits gegebene Survival Story rerollt und eine neue, noch ausmaßendere Überlebensgeschichte gespielt. Eine, in der es um nichts geringeres als das Überleben der Existenz von Allem geht. Denn Dana ist eine sogenannte Warden of Evolution. In regelmäßigen Abständen findet eine Art Massensterben statt, bei der die „vorherrschende“ Spezies des Planeten ausradiert wird – von einem Baum, einem besonderen Baum, welcher sich auf der Insel Seiren befindet. Lediglich ein Exemplar einer jeden vorherrschenden Spezies wird daraufhin Mitglied im Klub der Wardens of Evolution und darf die Evolutionsprozesse mitüberwachen und die bittersüße Unsterblichkeit erlangen. So eben auch Dana, doch Dana stand auf Kriegsfuß mit den anderen Wardens. Sie wollte die Prophezeiung für ihr Volk nicht so schlicht hinnehmen und begab sich in den singulären Aufstand, in eine Äonen überdauernde Rebellion des gewaltlosen Widerstands, im Schlaf – bis nun schließlich Adol & Co. ihrem Protest beiwohnen konnten. Denn Adol ist selbstverständlich auch ein Auserwählter, der Warden of Evolution unserer Zeit, womit auch seine kognitive Verbindung zu Dana begründet wird.
Wiedermals überschlagen sich die Ereignisse erneut und erneut. Bis schließlich der Widerstand ruhmreich vor den Toren der Mächtigen steht. Einer Verkörperung des Evolutionsprozesses selbst. Die Auständigen bezwingen diese, doch auf diesen Erfolg, folgte das Nichts. Unsere Exitenzebene löste sich auf, wie die Erinnerung an einen Traum, die sich kurz nach dem Aufwachen verwischt und daraufhin komplett erlischt. Dana, ging daraufhin in einen nicht weiter elaborierten Verhandlungsprozess mit der Göttin Maia, eine nochmals höhere Existenz, welche unsere Welt anscheinend lediglich träumte. Durch die Vernichtung der Verkörperung des Evolutionsprozesses erwachte Göttin Maia aus ihrem Tiefschlaf. Ihr Erwachen löste die bruchstückhafte Auflösung von allem Geträumten aus. Dana überredete Maia rückwirkend ein Save File unserer Welt anzulegen, welches Dana fortan mit den anderen Wardens of Evolution hüten wird. Das Lacrimosa von Dana. Also ja, so sieht in etwa das True Ending aus. Wehmütig trennen sich die Wege aller Protagonist:innen und wir schwelgen in wohliger Erinnerung dem Erlebten hinterher, während die Credits runterrollen. Das Spiel beinhaltet jedoch drei unterschiedliche Enden. Nach Sichtung des „Normal“ und „Bad“ Endings wurde mein aufgewühltes Gemüt ein wenig beruhigt. Denn wie soll eine einfache Menschenseele diesen Esoterik-Overload, den einem Ys da vorwirft, so einfach hinnehmen. Wie sollen die einfachen Existenzen dieses Spiels die neu hinzugewonnenen Erkenntnisse so einfach hinnehmen? Sie sind lediglich Gegenstand eines Traums, leben in einem Traum, leben in der Kopie eines Traums. Das normale Ende impliziert das die Abenteuergruppe selbst alles Geschehene rundum Dana und der hier präsentierten Evolutionstheorie lediglich geträumt hatten. Das schlechte Ende impliziert selbiges, nur das lediglich Adol Erinnerungen in Form eines Traumes an das Geschehene hat. Diese Enden erhalten mir die Glaubwürdigkeit des Spiels, denn sie verlieren sich nicht in außerweltlichen Ereignissen und Erklärungen. Die Ausrede eines Traums, mag auch erst lasch erscheinen, aber im Kontext des Spiels wiederum irgendwie poetisch. Wir träumen, träumen geträumt zu werden, erwachen aus unserem Traum, wo sind wir nun, auf welcher Ebene? Is this the real life?
Am Ende war es ohnehin nur eine Erzählung, ein Märchen Adols. Eine Erinnerung an ein Survival-Abenteuer, an die Notstrandung auf dieser mysteriösen Insel. Die Erinnerungen mögen sich intensiviert haben, verfälscht, verklärt. Ja Adol, wir alle fügen unseren Geschichten doch gerne lustige, fantasievolle Details hinzu, formen sie in wundersame, abenteuerreiche und lehrhafte Erzählungen voller Spannung, Humor, Liebe, und Mysterien. Aus einem einfachen, abendlichen Waldspaziergang, wird ein gruseliger Todestrip, voller schattenhafter Monstrositäten, ein schweißgebadetes Abenteuer. Es sind verbildlichte Emotionen, die mit einer Erinnerung verknüpft wurden oder waren. Ein seichtes Abenteuer- und Erkundungsspiel wird zu einer außerweltlichen Spielerfahrung mit pseudo-neurowissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Thema Erinnerungen. Ich verkläre meine Erinnerung an dieses Spiel. Ich kann die hier dargebotene Realität des wahren Endes nicht annehmen, wir alle seien nur ein Traum. Mein Ende ist das schlechte Ende. Es war alles nur ein Traum. Ein Traum darüber, dass alles nur ein Traum sei. Das ist nun die Realität. Meine verklärte Erinnerung.
Bilder: © Nihon Falcom
Habe das Spiel gerade mit dem TRUE ENDING abgeschlossen. Was für ein schöner Artikel zu einem besonderes Spiel. Danke
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