In Pokémon-Legenden: Arceus verbringen wir erstmals vemehrt Zeit damit, die Pokémon innerhalb der Spielwelt tatsächlich auch zu beobachten, statt nur durch Gras zu laufen und auf einen Random Encounter zu warten. Wir sehen die Pokémon in der Spielwelt, wie sie ihren vorprogrammierten kurzen Laufwegen folgen, und auch wenn ihre Verhaltensweisen noch sehr schmal ausgearbeitet sind, ist dies ein großer Fortschritt innerhalb der Reihe. Denn endlich, wenn auch in geringem Ausmaß, können wir mehr Zeit damit verbringen das Verhalten von Pokémon zu beobachten. Jonathan Franzen schreibt in seinem Essayband „Das Ende vom Ende der Welt“ auch über seine Beobachtungen, von Vögeln. Er ist leidenschaftlicher Vogelbeobachter und schreibt über seine Erkenntnisse und die Wichtigkeit des Erhalts der Vogelpopulationen, sowie wie dies zu bewerkstelligen sein könnte. Unter anderem mittels der Parataxonomie, und diese ist auch grundlegender Bestandteil der Pokémon-Reihe. Die Taxonomie bezeichnet das wissenschaftliche Bestreben, die Vielfalt lebender Organismen zu benennen, zu beschreiben und zu klassifizieren. Dieses Bestreben ist uns auch als das ultimative Spielziel der Pokémon-Hauptreihe bekannt: die Vervollständigung des Pokédexes. Der „Schnapp sie dir alle“ Slogan steht für dieses Bestreben, alle Pokémon zu fangen und die Erkenntnisse mithilfe des Pokédex zu katalogisieren – den Aspekt der Unterdrückung und in Kampfarenen gegeneinander antreten lassen mal ausgeklammert. Als junge aufstrebende Pokémon-Trainer:innen werden wir zumeist von einem oder einer Poké-Professor:in in die Spielwelt eingeführt, bekommen unseren Pokédex sowie ein Starterpokémon überreicht und werden in die Welt entlassen, um quasi als Assistenzforscher:in Wissen über Pokémon anzuhäufen. Diese Form der Assistenzforschung kann auch Parataxonomie genannt werden. Die Pokémon-Trainer:innen oder Parataxonom:innen arbeiten ohne großartige Ausbildung oder Qualifikation und benötigen lediglich eine kleine Einführung ihrer Leitforscher:innen, zudem stammen sie zumeist aus dem unmittelbaren Umfeld des Forschungsbereichs. Wenn Franzen über die Kriterien erfolgreicher Naturschutzprojekte schreibt, erwähnt er die Wichtigkeit gut umgesetzter Parataxonomie. Da diese die umliegenden Gemeinden mit einbeziehe, welche dadurch ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickeln, was die Artenvielfalt bedeutet und sie letztlich mehr wertschätzen.
In Pokémon Arceus scheint das Ende der Welt bevorzustehen und es scheint irgendwie im Zusammenhang mit den Menschen ausgelöst worden zu sein. Nun, um diesen grausamen Untergang und die himmelverdunkelnden Extremwetterereignisse abzuwenden, welche die hiesige Bevölkerung sowie Pokémon in Unruhe versetzen, gehen wir der Tätigkeit nach, der wir seit Jahrzehnten nachgehen. Pokémon fangen. Darunter auch die schwer aufzufindenden legendären Pokémon. Denn auch Franzen schreibt in seinem Kapitel „Unsichtbare Verluste“ über verschiedene Arten von Meeresvögeln und inwiefern diese bedroht sind, sowie dass es schwierig ist, sich um Tiere zu bemühen, die man nicht sieht. Mit unserer voranschreitenden Arbeit am Pokédex wollen wir die Pokémon sichtbar machen. „Um das Aussterben einer Art zu verhindern, muss man zunächst einmal wissen, dass sie existiert“. Viele Pokémon befinden sich für uns im Verborgenen, sind für die ökologischen Kreisläufe jedoch unersetzlich. Hierin liegt der Wert der Arbeit der Pokémon-Parataxonom:innen. Um die gesunden Lebensräume- und Umstände von Mensch und Pokémon aufrechtzuerhalten, gilt es also herauszufinden, welche Arten es gibt und was sie für ihr Überleben benötigen und inwiefern sie selbst die Umwelt beeinflussen und formen. Und im Umkehrschluss auch wie die Umwelt selbst so manches Pokémon formt.
Der Burmy-Konflikt



Burmy ist ein anpassungsfähiges Pokémon, ein sogenannter Formwandler. Die Form eines Burmy passt sich der Umgebung an. So kann es schließlich auch dazu kommen, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Eindrücke eines Burmy erhalten. Dies führt unter anderem in einer Nebenaufgabe des Spiels zu einer hitzigen Debatte zwischen drei Personen, von denen eine jede sich im Recht sieht. Denn sie alle haben einen eigenen Eindruck eines Burmy erhalten und dementieren die Existenz anderer Burmy-Formen. Dieser Konflikt steht auch beispielhaft für die Hauptaufgabe des Spiels: Dem Forschen und Streitschlichten. Denn von nun an müssen wir diesen Personen nicht nur den Beweis dafür liefern, dass alle drei mögliche Burmy-Formen zu Gesicht bekamen, sondern auch den Pokédex-Eintrag über Burmy vervollständigen, um zu beweisen, dass Burmy ein Formwandler ist. Denn sie wollen stichhaltige Beweise, dafür, dass es sich bei den anderen Formen auch um Burmys handelt und diesen Faktencheck kann bekanntermaßen lediglich ein waschechter Pokédex-Eintrag liefern.



Unsere diplomatischen Fähigkeiten werden jedoch nicht nur im Burmy-Konflikt auf den Prüfstand gestellt. Ein nicht minder größerer Konflikt wartet darauf von uns geschlichtet zu werden. Denn das Ende der Welt steht bevor. Zumindest scheint es so, wenn man in den Himmel schaut.



Aber ist es wirklich das Ende der Welt? Oder lediglich das Ende vom Ende der Welt? Denn eigentlich sind wir hier ja Zeitreisende und erleben lediglich die Vergangenheit, nur ist hier nun eben dieses riesige Raum-Zeit-Krümmungsgewitter, diese alles vernichtende Katastrophe, aus der wir überhaupt erst in diese Welt fielen. Wir reisen ungewollt in die Vergangenheit, um das Ende der Welt einzuläuten? Oder um es zu verhindern? Für manche erscheinen wir in dieser Welt zurecht suspekt, so kamen wir schließlich zeitgleich mit dieser Katastrophe in diese Welt. Jedenfalls ist es nun unser Ziel das Ende der Welt zu beenden, das Ende vom Ende der Welt herbeizuführen. Direkt zu Beginn schließen wir uns der Galaktik-Expedition an, einer Forschungsinstitution, die sich dem Verständnisgewinn der Pokémonwelt gewidmet hat und einen ersten Pokédex anfertigen will. Doch unsere Aufgaben übersteigen dieses Gebiet noch, denn wir müssen zudem noch unser diplomatisches Geschick im Konflikt zweier verfeindeter Clans walten lassen. Der Perl- und der Diamant-Clan haben jeweils zwei unterschiedliche Weltauffassungen. Von denen ähnlich wie im Burmy-Konflikt möglicherweise beide zutreffend sind, doch die Sturheit im Recht zu liegen überwiegt.
Im Spiel müssen wir einen Diskurs beginnen, zwischen zwei konventionellen sturen Lagern, als Völkerverständiger:innen die Dialogbereitschaft herstellen. So wie das Spiel selbst in der echten Welt einen neuen Diskurs beginnt über die Handhabung der bekannten und sich bewährenden Pokémon-Formel. Das Überarbeiten dieser Formel mag tatsächlich Überwindung kosten, denn die Pokémon-Reihe ist eine traditionsreiche, und an ihrer Formel wird schon seit Jahrzehnten starr festgehalten, schließlich geben die Verkaufszahlen ja recht. Also warum etwas ändern? Wegen ein paar Kritiken, ein paar Aufmüpfigen? Oder haben sie vielleicht doch recht? Die Stimmen der Kritik drängen schließlich auch aus den tiefsten Reihen treuester Anhängerschaft. Vielleicht doch den Diskurs wagen, die Dialogbereitschaft mit vom Einheitsbrei ermüdeten Fans wiederherstellen. Mit Arceus beginnt endlich zumindest ein neuer Diskurs. Viele Traditionen werden beibehalten, sodass die Marke ihre Identität nicht verliert, doch ebenso wird versucht auf die Wünsche der Fans einzugehen, wenn auch mit vorerst geringem technischem Umsetzungsgeschich, doch die Intention überzeugt immerhin, das Potential dessen, was möglich sein könnte. Es gilt zwar nur als Spin-Off und es ist vermutlich noch unklar, wie viele der Ideen dieses Spiels in die Hauptreihe übertragen werden. Doch es könnte ein Ende vom bisherigen Pfad der Reihe einleiten. Ein Ende der ständig lediglichen „Was wäre, wenn“ Gedankenspiele. Ein endlicher Anfang. Ein gesellschaftliches Übereinkommen. Burmy.
Nun kann aus dem ganzen Fortschritts- und Forschungsdrang aber auch ein unstillbarer Wissensdurst entstehen. Ein Wille, eine Sucht nach immer mehr. Der kritisch analytische Blick verliert sich im Nebel und die Sache, um die es eingangs noch ging, die friedliche Koexistenz zwischen Mensch und Natur bzw. Pokémon, gerät aus dem Blickfeld. Der Durst nach mehr Wissen, welches zu Macht führt, nimmt manische Züge an und bevor man sich versieht stürzt man die Menschheit in ein alles verschlingendes Chaos und öffnet einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.
