Katzen sind nicht nur schon seit Jahrtausenden ein steter und beliebter Begleiter des Menschen, sondern auch seit Anbeginn der Memekultur fester Bestandteil jener. Da scheint es doch ein Freifahrtsschein diese Wesen in ein kommerzielles Produkt mit einzubinden, um ein paar gratis Beliebtheitspunkte und Aufmerksamkeit zu kassieren, oder stecken im Falle von Stray doch ein paar mehr Gedankengänge hinter der Wahl – eine Katze als spielbare Protagonistin zu wählen? Ist sie mitsamt ihrer ganzen Eigenheiten vielleicht sogar prädestiniert dafür eine Cyberpunk’sche Dystopie, sowie die Zwänge und Einschränkungen, die eine solche Dystopie mit sich bringt, zu veranschaulichen?
Im ersten Kapitel sind wir noch mit einigen befreundeten Katzen, in von der Natur überwucherten Mauergewölben, am Umherstreunern. Bis uns ein tragischer König der Löwen-esker Unfall erleidet und wir hinabstürzen, in die dunklen Tiefen, uns mehr und mehr von der natürlichen Idylle und einem freien Himmel entfernen. Nun befinden wir uns in den verdunkelten Ruinen einer Cyberpunk-Metropole, welche wir uns nach und nach erschließen. Schon bald stellen wir fest, dass hier außer der Headcrab-ähnlichen Parasitenschwärme kein organisches Leben mehr herrscht. Nur ein paar Androiden, die menschenähnliche Verhaltensweisen aufweisen, laufen wir über den Weg. Wir stellen auch fest, dass diese Stadt von einer riesigen Kuppel umgeben ist. Das Gefühl der Einengung und die Unterdrückung unseres Freiheitsdrangs macht sich langsam breit. Wir wollen hier schleunigst wieder raus, so viel steht fest. Doch im Laufe des Spiels erfahren wir auch mehr von den Androiden und ihrem ganz eigenen Freiheitsdrang, von ihren Träumen und Gedanken, ihren Frustrationen, ihren Überlegungen und Vorhaben, die Eingrenzung der Kuppel zu druchbrechen. So steigert sich das Spielziel vom rein persönlichen Interesse den Mauern zu entfliehen, in ein größeres, in ein gesellschaftliches. Wir erkennen nun nicht mehr nur die Grenzen unserer eigenen Freiheit, sondern auch die der anderen. Ob die Katze nun dieses Recht über die Kontrolle eigener Lebensbedingungen und Emanzipation der anderen anerkennt, sei mal dahingestellt. Jedenfalls agieren wir als Spielende nun nicht mehr nur im Eigeninteresse. Vielleicht stimmt uns die Katze zu, vielleicht führt sie diesen Freiheitskampf auch nur für sich, ihre Sache. Doch vorerst müssen wir unseren Freiheitsdrang anderweitig ausleben, denn so schnell kommen wir hier nicht raus. Machen wir doch ein paar Katzensachen, loten wir mal unsere Möglichkeiten aus.
Im Leveldesign äußern sich die Möglichkeiten und Eingrenzungen unseres Freiheitsdrangs ebenfalls kontextsensitiv, ob von den Entwickler:innen intendiert oder nicht. Es gibt einige Levelareale, in denen sich die Androiden niedergelassen haben, frei von der Gefahr der Parasitenplage. Hier können sie sich einigermaßen frei entfalten und so etwas wie den Ansatz eines erfüllenden Lebens führen, nur werden die Grenzen ihrer Freiheit auch in diesen Arealen sehr schnell deutlich. In diesen Arealen erhalten auch wir einen Hauch von spielerischer Freiheit. Wir können diese Areale frei und in Ruhe begehen und uns erschließen, die Questreihenfolge selbst bestimmen, unserem Freiheitsdrang freien Lauf lassen, zumindest ein wenig. Denn sobald wir eines dieser Areale verlassen und wieder in das unerbittliche von Parasiten besessene Stadtinnere zurückkehren, um unserem Spielziel näherzukommen, laufen wir mit unserem Freiheitsdrang gegen Wände. Das Leveldesign wird wieder eingeschränkter, die Linearität unserer Möglichkeiten offenbart sich wieder. Es gibt nur einen Weg, den Weg hier raus. Die Mauern und Gefahren weisen uns absurderweise diesen Weg. Die Katze ist wachsam, die Auslebung ihres Freiheitsdrangs erfordert ein rasches Erkennen der repressiven Situationen und weist uns instinktiv auf den richtigen Pfad. Nebenher stoßen wir ein paar Farbeimer von Anhöhen herunter und zerkratzen Teppiche, einfach nur weil wir es können, weil wir die Freiheit dazu haben, bzw. uns sie nehmen.
Letztlich schafft es diese Katze sich ihre Freiheit zurückzuerkämpfen und nebenbei auch die, der Androiden. Sie befreit eine gesamte Metropole von der Unterdrückung einer aufgrund von Klassendifferenz entstandenen Parasitenplage. Zumindest das was von der Metropole übrig blieb – die humanoiden Androiden und die bruchstückhaft verbliebene Natur. Doch was trieb die Katze dazu an? Einzig und allein der in ihrer Natur liegende Freiheitsdrang? Ihr soziales Gespür, ihre Wachsamkeit, ihre Fähigkeit Repressionen zu erkennen und diesen zu entfliehen? Wir verbringen viele Stunden mit dieser Katze, steuern sie, erfahren das gesamte Spiel aus ihrer Perspektive, doch sie bleibt uns bis zum Ende ein Mysterium. Sie offenbart sich uns nicht, gibt ihre Intentionen nicht preis. Lediglich ihr Freiheitsdrang, ihr Sinn sich einen Weg nach außen zu bahnen, Gegenstände von Anhöhen zu stoßen, Sofas und Teppiche zu zerkratzen, stundenlang auf Matratzen herumzudösen, gibt uns ein Anzeichen über ihre Persona.
So wie das Cyberpunk-Genre meist von der Gewalt und der Unterdrückung durch Riesenkonzerne sowie von der Urbanisierung, Technisierung und zunehmenden Entmenschlichung erzählt, geschieht es auch in Stray. Im Cyberpunk clashen zwei Freiheitsverständnisse. Die menschliche oder persönliche Freiheit muss der Marktfreiheit zunehmend ihren Platz räumen, was die Konzerne in ihrem Handeln zur absoluten Skrupellosigkeit legitimiert und zur Entmenschlichung bzw. zur Auslöschung der Menschen in Stray führt. Stray erzählt uns nun von einem Freiheitsdrang, der all dem entgegnet, von der Entmächtigung der Unterdrückenden und einem Wiedererstarken der Individualrechte. So wie das Spiel uns viele Handlungsoptionen ohne wesentlichen Grund gab, tat vielleicht auch die Katze all dies ohne großartige Hintergedanken und einzig und allein als Audruck eines Freiheitsdrangs. Wir überlassen es ihr einfach zu tun und zu lassen was sie will, uns bleibt schließlich nichts anderes übrig, denn ihre Freiheit ist auch die unsere, oder so.